Teilweise Annäherung an eine unbekannte Einheit.
Auszug aus der Rede zur Eröffnung des „Rottweiler Sommers“ 1995
„…Für Rottweil hat Stefanie Reling ein Objekt, eine Plastik geformt, deren Vorgeschichte zunächst in eine andere Richtung weist: Nüsse, verholzte Früchte, Samenghäuse oder deren Bruchstücke nimmt die Künstlerin als Ausgangspunkt für ihre Erfindungen, die gleichermaßen eigenständig wie abgeleitet sind. Man kann in dem kaltweißen Stück, das jetzt in diesem Raum ausgestellt ist, noch etwas von den Anfängen erkennen, die irgendwo auf einem Waldweg oder auf einer Parkbank lagen: An solchen Fundorten von winzigen Stückchen Natur liegen die Anregungen für Stefanie Relings künstlerische Arbeit. In dem Beitrag zu diesem Symposium ahnt man noch die Höhlen und Wölbungen, die Wulste und Verstrebungen, wie sie etwa von Walnüssen her vertraut sind.
Man kann diese Plastik auch als kaum verschlüsselten Hinweis auf menschlich Fortpflanzung sehen, zumal die Grafik, die in Zusammenhang mit dieser Arbeit entstand, eine gewisse Verwandschaft mit den Schautafeln biologischer Fachliteratur aufweist. Doch schon die Materialien, die Stefanie Reling für ihre Objekte wählte, relativieren derlei Verknüpfungen mit dem Organischen. Stefanie Reling hat für ihre Arbeit Gips und Stahlrohr verwendet, um eine schützende Schale zu schaffen für zwei Glaselemente, die Keimblätter sein könnten, Knospen oder abstrahierte Eierstöcke. Oder sind sie womöglich Lampen? Auf jeden Fall zeigen sie eine bläulich schimmernde Kälte, die durch die gleichsam aseptisch weiße Umgebung der Gipsform in ihrer beinahe frostigen Wirkung noch gesteigert wird und somit einen Abstraktionsgrad darstellt, der zu weiteren, allgemeineren Überlegungen herausfordert. Ein Bezug zu bestimmten biologischen und organischen Ausformungen ist hier nur bedingt herzustellen. Viel eher läßt sich die Arbeit als genereller Hinweis auf elementare Kräfte und Ausprägung des Lebens, vielleicht auch auf deren Bedrohung verstehen.
Man könnte allerdings einen Schritt weitergehen und erneut Platon bemühen. Bedingung wäre, daß man Stefanie Relings Objekt tatsächlich wie einen Schnitt durch die Bauchhöhle und als eine Art Mutterleibsmodell ansieht. Dann ist der Weg nicht mehr weit zu Sokrates‘ Auffassung von Philosophie, wie sie Platon in seinem Dialog „Theaitatos“ schildert. Sokrates verstand sich als männliche Geisteshebamme, als Geburtshelfer der Wahrheit: Durch Fragen, Fragen und abermals Fragen hilft er ihr, der Wahrheit, auf die Welt zu kommen. Nun ist dieses Symposium kein Platon-Seminar und Stefanie Relings Arbeit keine Allegorie auf die sokratische Hebammenkunst der Maieutik. Aber der eben eingeschlagene interpretatorische Umweg bringt einen Begrif aufs Tapet, der für die Kunst des 20. Jahrhunderts und nicht zuletzt für die Beiträge zu dieser Ausstellung von grundlegender Bedeutung ist – der Begriff der Wahrheit. …“