Johannes Meinhardt

Prof. Dr. Johannes Meinhardt, Oktober 2010

JUVENALE 2010

Die Sprachanalysen von Stefanie Reling gehen von analytischen Erkenntnissen über die Verfassung von Sprache aus, die in ihrem Beginn schon mehr als hundert Jahre alt sind, aber heute noch Unbehagen und Verwirrung hervorzurufen vermögen: vor allem von der für jede strukturalistische Analyse grundlegende Einsicht, dass die Bedeutung von Wörtern und Sätzen nicht ein positiv gegebener Besitz des individuellen Bewusstseins ist. Bedeutung, die wir als selbstverständlichen Inhalt des subjektiven Innen, der geistigen Welt, verstehen, und die das Medium ist, in dem Bewusstsein und Intentionalität stattfinden, zeigte sich schon den frühen strukturalistischen Sprachwissenschaftlern als ein Effekt der Sprache.

Während wir ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass Sprache nur eine Materialisierung von Gedanken beziehungsweise Sinn ist, eine Veräußerlichung der Bewusstseinsinhalte in ein vorgegebenes, aber noch flüchtiges Transportmedium – so wie Schrift ein weiterer Schritt der Veräußerlichung von Sinn in ein noch äußerlicheres, als materielles Objekt in der Welt existierendes Speicher- und Transportmedium zu sein scheint –, stieß die strukturalistische Analyse auf das Faktum, dass Bedeutung durch Sprache immer schon geregelt und festgelegt ist. Sinn entspringt als subjektiver Effekt der Aneinanderreihung von Zeichen. Sobald wir etwas als Zeichenkette wahrnehmen, können wir gar nicht verhindern, dass dieser Zeichenkette Sinn entspringt – und sei dieser Sinn schwer verständlich oder hermetisch, unverständlich oder okkult, vieldeutig oder unentscheidbar, unsinnig oder unentzifferbar. Dieses Entspringen von Sinn vor den Augen des Lesenden oder den Ohren des Hörenden ereignet sich desto offensichtlicher, je weniger offensichtlich die Bedeutung der Sätze ist. Gerade bei Textfragmenten, die keine zureichende Bedeutung mehr ergeben, die durch Fragmentierung, durch Zitieren, durch Verstümmelung, durch mechanische, sinnwidrige Übersetzung ihres Zusammenhangs und ihres Kontextes beraubt wurden, deren Bedeutung also nicht mehr problemlos erschlossen werden kann, können wir an uns selbst beobachten, wie diese Fragmente sich mit einem undeutlichen, aber wirkungsmächtigen, sogartigen Hof der Sinnhaftigkeit umgeben. Zeichen bringen immer einen Bedeutungseffekt hervor – das gilt selbst etwa für zufällige Reihungen von Zeichen. Selbst der materiellen Welt gegenüber waren vormoderne Gesellschaften – und sind viele von uns heute noch – so eingestellt, dass sie die Welt übersäht sahen von Zeichen, die jedoch nur schwer lesbar sind, die besondere Mittel der Entzifferung erfordern. Die grundlegende Sinnhaftigkeit aller Arten von Zeichen (und seien es Vorzeichen, Anzeichen, Winke, Andeutungen) überschwemmte sogar die materielle Welt mit Sinn; umso mehr alles, was als Zeichen (selbst als unsinniges oder banales Zeichen) gelesen werden kann. Das geht so weit, dass sich die Gefahr einer übermäßigen Aufladung mit Sinn, einer Überfrachtung mit Tiefsinn, oft nur mit Mühe abwehren lässt. Stefanie Reling sammelt in ihrem Spammuseum Sätze, die in besonderem Maße bedeutungsentleert, konventionell und kontextlos flach sind. »Ausgestattet mit der aktuellsten Antivirensoftware und externen Sicherheitskopien traue ich mich, einige Emails zu öffnen und ein bisschen darin zu stöbern. Neben den unzähligen Werbemails finden sich hin und wieder Spams mit sinnlosen Texten, die nach der Herausfilterung der schönsten Zeilen eine eigentümliche Poesie offenbaren.« Verstärkt wird die beunruhigende Leere und Flachheit dieser Sätze und Satzfragmente durch die Übersetzungen, die von Übersetzungsmaschinen angeboten werden und mechanische, von Kontexten und Sinnzusammenhängen völlig freie Interlinearübersetzungen liefern.

Durch die Kombination solcher anonymer Sätze, die keinen Autor besitzen, aber auch keinen Adressaten, da sie an jeden Beliebigen gerichtet sind, entstehen artifizielle Pseudoerzählungen oder Pseudodialoge, die auf sehr eigentümliche Weise zwischen Schwachsinn und Tiefsinn changieren: sie vermitteln den Eindruck von nicht identifizierbaren, fragmentarischen Zitatmontagen, in denen jedes einzelne Fragment möglicherweise eine genaue Bedeutung besessen hatte, die aber durch den Verlust des Textzusammenhangs abhanden gekommen ist. Dieses Anonym- und Allgemeinwerden ist mehrdeutig: zum einen erzeugt es Vagheit und Vieldeutigkeit, und gerät dadurch in die Sphäre der Literatur oder, spezifischer, der Lyrik – wir verstehen die Sätze dann so, als sei ihre Mehrdeutigkeit poetisch präzise geschaffen. Zum anderen kann diese Allgemeinheit auch als Ausweis von Tiefe, von tiefem Sinn wahrgenommen werden – die in allen Buchreligionen bekannte Vorstellung, dass wahre Sätze einfach seien, ist weit verbreitet; sie findet in allen Zeichen eine unerschöpfliche Fülle an Sinn. Zum dritten aber kann diese Leere und Vagheit aber auch analytisch als Leere und Vagheit wahrgenommen werden, als ein bedeutungsloses Klappern von konventionellen Zeichenketten, dessen Sog wir uns durch deren Analyse entziehen können.